Intern
Institut für Musikforschung

Aleppo: Mythos einer Stadt

Die syrische Stadt Aleppo trägt im Arabischen den Beinamen "Um al-Tarab". Um heißt auf Arabisch "Mutter", Tarab bedeutet so viel wie "Ekstase" oder "Euphorie" und bezieht sich auf eine spirituell-emotionale Stimmung, die durch Musik erzeugt wird. Gleichzeitig ist Tarab auch ein Überbegriff für arabische Kunstmusik. Aleppo gilt seit dem 19. Jahrhundert neben Kairo als eines der wichtigsten Zentren klassischer arabischer Musik. Zum traditionellen Repertoire der Stadt gehören unter anderem die "Muwashahat" und die "Qudud" – Lieder, die oft die Sehnsucht nach einem Geliebten zum Thema haben. Damit kann in religiösen Kontexten auch Gott gemeint sein. Hören Sie hinein in eine Muwashshah, gesungen von Sabah Fakhri (1933–2021), dem wohl berühmtesten Sänger Aleppos.

Viele der bekannten Komponisten und Musiker aus Aleppo begannen ihre musikalische Ausbildung in einer der zahlreichen Moscheen der Stadt. So auch der international bekannte Sänger Sabri Moudallal (1918–2006). Unter Einweisung von Omar Al-Batsch (1885–1950), einem der wichtigsten syrischen Komponisten und Musiker des letzten Jahrhunderts, erhielt er schon in seiner Kindheit Gesangsunterricht und erlernte die Koranrezitation nach aleppinischer Tradition. Später wurde er zum Muezzin der berühmten Umayyaden-Moschee benannt, die in der Altstadt von Aleppo liegt und auch al-Dschami’ al-Kabir ("Große Moschee") bezeichnet wird.

Die Umayyaden-Moschee gilt als eines der bedeutendsten Zentren im religiösen und gesellschaftlichen Leben Aleppos. Sie wurde um 715 n. Chr. im Auftrag des Umayyaden-Kalifen Abu l-Walid Abd al-Malik ibn Marwan errichtet und ist damit nur wenig jünger als die berühmte Moschee gleichen Namens in der Hauptstadt Damaskus. In der Moschee aufbewahrte Reliquien, ihr prachtvolles Minarett und ihr verzierter Gebetssaal machten sie seit jeher zu einer wichtigen Pilgerstätte. Während ihrer bewegten Geschichte brannte die Moschee im Jahr 1169 n. Chr. fast komplett ab und wurde später wiederaufgebaut. Seit 2012 geriet sie abwechselnd unter Kontrolle der verschiedenen Kriegsparteien im Syrienkonflikt. 2013 stürzte das 45 Meter hohe Minarett ein, nachdem die Moschee schon vorher zu großen Teilen beschädigt worden war.

Aleppo Beiname als „Mutter der musikalischen Ektase“ weist nicht nur darauf hin, dass die Stadt vor dem Krieg Heimat zahlreicher bekannter Musiker war und dass angeblich jeder Haushalt einmal mindestens eine arabische Laute, die Oud, besessen hat. Hinter dem Beinamen steckt auch und vor allem der Mythos, dass ihren Einwohnern ein ganz spezielles musikalisches Gehör zu Eigen sei. Verkörpert wird dieses Ideal von den sog. sammi‘ah. Abgeleitet von der Konsonantenwurzel s-m-‘a (auf Deutsch: „hören“/„zuhören“), beschreibt dieses Wort „diejenigen, die (gut) hören“, also ein Publikum, das für das musikalische Erbe der Stadt als mindestens genauso wichtig gilt wie die vielen dort geborenen Musiker. Nach aleppinischem Verständnis besitzen die sammi‘ah ein besonderes Wissen über Musik, ein Talent für das Zuhören und die Gabe, Musik zu fühlen und emotional darauf zu reagieren. Im Gegensatz zu der uns bekannten Norm eines stillen Hörens, drücken die sammi‘ah ihre Ergriffenheit auch während einer musikalischen Darbietung aus. Besonders virtuose oder emotional rührende Stellen markieren sie mit Gesten, Mimik und begeisterten Ausrufen wie beispielsweise "Aaaaaah", "Allah!" (= "Gott!"), "Ya ruhi!" (= "Oh meine Seele!"), "Ya ‘ayni!" (= "Oh mein Auge!"), "Ya Habibi" (= "Mein Liebling!") oder "Ya m‘allem!" ("Mein Meister!"). Versuchen Sie, mithilfe folgender Tonaufnahme des Sängers Adeeb al-Dheiekh (1938–2001) und auch ohne den gesungenen Text zu verstehen, in die Gefühlswelt der sammi‘ah einzutauchen. Können Sie ihre emotionalen Ausrufe heraushören?