Intern
Institut für Musikforschung

Oberschlägiger Hammerflügel von Johann Baptist Streicher (Wien 1837) – R 16


Die oberschlägige Mechanik (downstriking action) ist ein spezieller Ansatz im Klavierbau. Das Konzept, Hämmerchen von oben auf die Saite zu schleudern, deutet sich in den Erfindungen von Hammermechaniken schon an, die Jean Marius 1716 der Pariser Académie des Sciences präsentiert hatte (Machines et Inventions approuvées par l'Académie Royale des Sciences, Tome troisième, Paris 1735, 85-86 und Tafel). Realisiert wurde die Mechanik mit Prellzunge vom Wiener Klavierbauer Johann Andreas Stein (1728–1792), abwärtsführend konzipiert durch seine Tochter, die Klavierbauerin, Komponistin, Musikpädagogin und Schriftstellerin Nannette Streicher (1769–1833) und in Serie gebaut durch ihren Sohn Johann Baptist Streicher (1796–1781). Streichers Klavierfabrik war bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1896 neben der Firma Bösendorfer die bedeutendste im österreichischen Raum. Das Mechanik-Konzept entwicklten der Londoner Robert Wornum (1790–1852; Patent 1842), der Franzose Jean-Henri Pape (1789–1875) und der Berliner Wilhelm Julius Theodor Stöcker (1811–1878), der nur oberschlägige Flügel baute, weiter.

Der Vorteil der oberschlägigen Bauart bestand primär darin, dass die Stimmwirbel unter die Mechanik gelegt werden konnten, wodurch ein Stück Strecke für die Basssaiten gewonnen wurde. So bedurfte es keiner umsponnenen Basssaiten (wie das Messingdraht-Bassregister dieses Instruments zeigt). Als weiterer Vorteil schien zu sein, dass die Saiten durch die Hämmer in Richtung des Resonanzbodens angeschlagen werden und nicht von ihnen weg, so dass sich eine höhere Effizienz zwischen Kraftaufwand und Klangresultat zu ergeben schien. Die Bemühungen um eine brauchbare abwärtsgerichtete Mechanik waren bereits älter. Der Umstand, dass die herkömmliche Mechanik unterhalb des Resonanzbodens angebracht wurde und somit der Anschlag der Hämmer gegen die Saiten durch einen Ausschnitt im Resonanzboden erfolgen mußte, wurde als klangliche Beeinträchtigung empfunden. Durch Anschlag des Hammers von oben konnte man einen Resonanzboden ohne Lücke einziehen. Konstruktive Schwierigkeiten jedoch, vor allem das Problem, dass zur Rückstellung der Hämmer ein Federzug benötigt wird, brachten es mit sich, dass ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das oberschlägige Konstruktionsprinzip nicht mehr verfolgt wurde. Überdies bedingt die Bauweise, dass beim Stimmen die Klaviatur und die Hammermechanik nicht zum Anschlagen der Saiten verwendet werden kann (siehe Bilder mit frontseitig zum Stimmen offengelegtem Stimmstock und kochgeklappter Mechanik). Auch ist die Höhe der Klaviatur für Spieler:innen gewöhnungsbedürftig.

Es handelt sich hier um eine regulierbare oberschlägige Prellzungenmechanik, von Nanette Streicher 1823 erfunden.

Signatur: Auf dem Notenpult ein gepreßtes Messingschild: "PATENT = PIANOFORTE | erfunden u: verfertigt | von J. B. STREICHER | in WIEN". Auf dem Resonanzboden, unter der Dämpfung, im Bereich von c1 bis gis1 ein ovaler bedruckter Zettel. Die Fabrikationsnummer, die Jahreszahl sowie die darunter stehende Zahl handgeschrieben: "Nr. 2991 | J. B. STREICHER | vormals N. Streicher geb. Stein und Sohn | WIEN | 1837 | 321." (Siehe Bild links.)

Gehäuse mit langer Wand, Rückwand, Hohlwand und kurzer Wand. Mit Mahagoni furniert. Gesamtlänge: 243.4 cm, Größte Breite: 131,7 cm, Größte Gesamthöhe vorn (mit Deckel): 84,6 cm.

Klaviatur: Umfang C1–g4. Stichmaß (3 Oktaven): 47,5 cm; Klaviaturhöhe: 79,9 cm. Untertasten mit Elfenbeinauflage. Obertasten gebeizter Birnbaum mit Ebenholzauflage.

Züge: linkes Pedal "una corda", mittleres "due corde", rechtes Dämpferaufhebung.

Besaitung zeitgenössisch, von C1 bis F aus Messing, von Fis bis g4 aus Stahl. Von C1 bis Dis1 zweichörig, von E1 bis g4 dreichörig.

Zustand: Nur bedingt spielbar. Resonanztafel mehrfach gerissen. Pedalmechanismen nicht funktionstüchtig. Vielfache Furnierschäden.

Provenienz: Aus der Sammlung Ulrich Rück. Ankauf durch die Brüder Rück aus dem Besitz des Klavierhändlers Nold in Frankfurt/Main, Ende der 1930er Jahre. Schenkung 1957 an die Universität Erlangen. Siehe Rück-Portal des GNM Nürnberg: Eintrag zum Instrument.

Vergleichsinstrumente (baugleich): Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, MIR1118; Kunsthistorisches Museum Wien, Sammlung alter Musikinstrumente, 412; Grassi-Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig, Nr. 203; (Ähnlich:) Sammlung des Instituts für Musikwissenschaft der LMU München. Blogspot-Seite Fortepiano Villa Koecher, Nr. 2288; National Music Museum, Univ. of South Dakota, NMM 10289 (Serien-Nr- 136); Burghaus Wassenach, versteigert durch Galerie Moenius, 2023, Lot 110 (Youtube: Vorführung durch die Pianistin Els Biesemans mit Schuberts Impromptu B-Dur. D 935);

Resonanzen des Instruments wurden für die Klanginstallation Copia (Oktober bis Dezember 2012) abgenommen und als Klangmaterial verwendet. – Am 22. Oktober 2019 wurde der Flügel bei der Vernissage der Klanginstallation "fluctin / als<ob>jekt" behutsam von Stefan Hetzel zusammen mit einem speicherfähigen Roll-Up-Keyboard im Duett mit Oliver Wiener gespielt, der auf dem Klaviaturmetallophon StW 23 mit einer in Pure Data geschriebenen Live-Software (v.a. Ringmodulation mit Zuspielungen aus manipulierbaren Samples der Installation) begleitet hat. 

Literatur:
– Thomas Jürgen Eschler: Die Sammlung historischer Musikinstrumente des Musikwissenschaftlichen Instituts an der Universität Erlangen-Nürnberg, Wilhelmshaven: Noetzel 1993, 83-85, 117.
– Alexander Langer und Peter Donhauser: Streicher – drei Generationen Klavierbau in Wien, Köln: Dohr 2014.
–Michael Latcham: Verzeichnis der europäischen Musikinstrumente im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Vol. 7: The pianos of Johann Andreas Stein and his descendants and the pianos of the firm of Anton Walter. Wilhelmshaven 2016.

Siehe auch Hammerflügel N 8.

{ow; 2017-10-04}