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Institut für Musikforschung

virgin

„…worum es in Like a virgin geht…“

Pop-Polysemie zwischen Film und Wissenschaftsprosa

Zum Kritiker eines Kritikers einer fiktiven Figur sich zu machen mutet postmodern an. Doch ein genauerer Blick auf Tim Johnsons Analyse von Madonnas Like a virgin (1984) eröffnet gerade im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Erkenntnis und den Erkenntnissen des Filmemachers Tarantino methodische Fragen hinsichtlich der Semantik und Polysemie von Popkultur im Allgemeinen, dem Popsong im Besonderen.

Johnson macht zum Ausgangspunkt seiner Arbeit die Deutung von Like a virgin, die der Filmgangster Mr. Brown am Beginn von Quentin Tarantinos Reservoire Dogs ausführt. Für den fiktiven Mr. Brown ist Like a virgin die Erfüllung sadomasochistischer Männerfantasien. Diese Interpretation ist zunächst nicht abwegig, mit der Fokussierung auf Geschlechtsorgane jedoch stark zugespitzt. Johnson gründet seine Kritik darauf, dass Browns Interpretation eine "text only analysis" sei, während eine Analyse der Musik zu anderen Ergebnissen führe. Im Zentrum von Johnsons musikalischer Analyse steht die Frage nach musikalischer Stabilität und Eindeutigkeit, beziehungsweise nach Labilität und Ambivalenz. Seine Hypothese lautet: Weil Madonnas Like a virgin musikalisch ambivalent und damit anti-affirmativ sei, lasse sich der Song als Gesamtheit nicht als willige Erfüllung männlicher Sexualfantasien interpretieren. Der fiktive Mr. Brown wird durch musikalische Analyse eines Misreadings überführt, weil eine Musik mit regelrecht adornoschem Widerspruchscharakter eine derart plakative Deutung des Songs verbiete.

Das wirft Fragen auf: Kann der Wissenschaftler die Filmfigur einer Fehlinterpretation bezichtigen? Kann die Semantik von Popmusik nach den Kriterien entschlüsselt werden, die Exegeten klassischer Musik auf ihren Gegenstand anwenden? Und: was begründet den Vorwurf einer „music only analysis“? Ist nicht vielmehr eine Musik-Text-Analyse eine mindestens genauso drastische Verengung des Gegenstands auf traditionelle Kriterien, blendet sie nicht ein dichtes Wissen um Like a virgin aus, das Tarantino bewog, ein Gespräch über diesen Songs zu Beginn seines Erstlingswerkes zu machen?

Was also sind Johnsons Kriterien? Zunächst bespricht er das Intro des Songs, in dem zentrale Features der ganzen Struktur enthalten sind. Zwei Dinge versucht er zu zeigen, die harmonische Ambiguität des Beginns und die rhythmische Instabilität des Grooves. Erstere sieht er darin begründet, dass über dem auf F-Dur zentrierten Achtel-Basslauf (f-d-c-f-f-d-c-d) ein F6 beziehungsweise Dm7 Akkord liegt, der dem d im Basslauf jenes Gewicht gibt, welches die vermutete Ambiguität erzeugt. Für rhythmisch instabil hält Johnson das Gefüge wegen der 3+5 Struktur im Bass und des synkopischen Einsatzes des Oberstimmenakkords, der im vierten Takt sogleich umgedreht, quasi richtig eingespurt wird.

Auch dann, wenn man sich auf Johnsons Analysemethode einlässt, stutzt man hier: Ein instabiles Bass-Pattern? Johnson geht hier offensichtlich von der Vorstellung aus, dass der Grundton nur auf die schweren Zählzeiten gehöre. Das f auf dem vierten Achtel indes ist keine destabilisierende Verirrung des Grundtons, sondern zunächst nur eine Auftaktbildung zum Grundton auf dem dritten Viertel. Mit anderen Worten: Ebenso plausibel wie 3+5 ist das Pattern 4+4 mit einer auftaktigen Tonwiederholung. Ob diese Tonrepetition den Takt (de-)stabilisiert hängt vom Kontext ab. Mit einem derart klar markierten Beat im Schlagzeug liegt es nicht nahe darin ein Moment von Destabilisierung zu sehen. Wenn Johnson meint, der Groove sei nicht so tanzbar, wie man es erwarte, kalkuliert er zu wenig mit der „Generalbassfunktion“ des Schlagzeugs. In Verbindung mit dieser tragen die als instabil beschriebenen Momente eher zur Plastizität des Grooves bei als zu dessen Brechung.

Johnson schreitet zu den Strophen voran, die über weite Strecken vom Intro-Pattern getragen werden. Die Phrasenende des Gesangs führen zumeist zum f und geben der Strophe, die textlich von unsicherer, negativ konnotierter Vergangenheit handelt, - Johnson zufolge – eine gewisse tonale Sicherheit, markieren F-Dur. Am Ende der Strophe wird der Eintritt des Refrains über Csus4 vorbereitet. Hier sei nun F-Dur eindeutig zu erwarten, doch erneut tritt das harmonisch ambivalente Intro-Pattern ein, zudem mit synkopischem Akkordschlag. In Verbindung mit den Phrasenenden auf d sieht Johnson gerade im textlich positiv besetzten Refrain eine Häufung von Unsicherheitsfaktoren, die bis zum Schluss, Fade out mit Intro-Pattern, nicht gelöst würden. Während im Text also den Strophen – genaugenommen nur der ersten – bittere Vergangenheit zugeordnet ist, ist der Refrain positiv besetzt, „shiny and new, like a virgin“. Doch die Musik, meint Johnson, drehe die Verhältnisse um. In seiner Vorstellung wird der Song damit semantisch doppeldeutig. Textlich sei er interpretierbar als Männerfantasie, doch die Musik widerspreche, mache sozusagen die Zweifel und Unsicherheiten des Mädchens hörbar.

Um dies zu belegen bespricht Johnson die karnevalisierte Re-Komposition des Songs in Baz Luhrmanns Moulin Rouge!. Hier wird einem Geldgeber eine Tänzerin des Moulin Rouge im Tausch für seine Investitionen angeboten. Sie beichte gerade, so der Direktor des Amüsierbetriebs, damit sie sich für den Geldgeber wie eine Jungfrau fühle. Letzterer stimmt in den Gesang ein und träumt seine Männerfantasien in einem Operettenhaften Ausklang des Liedes in strahlendem F-Dur. Das Rework löse also die Spannungen, die Madonnas Version bis zum Schluss prägen.

Bleiben wir noch kurz bei „rein musikalischen“ Kriterien: Das Rework vollzieht einen Stil- und Genrewechsel. Der Song wird zu Revuemusik. Damit er das werden kann müssen einige Normen erfüllt sein, beispielsweise das große Finale in Dur. Dadurch indes ist Johnsons Deutung gefährdet. Nicht nur der narrative Kontext von Moulin Rouge!, der den Song tatsächlich als Männerfantasie einsetzt, bedingt die musikalischen Veränderungen, sondern auch der musikalische Stil selbst, der wiederum auf die Form des gesamten Musical-Film Moulin Rouge! zurückverweist. In jedem Falle bleibt die Frage, ob das F-Dur Finale primär semantisch oder primär stilistisch motiviert ist. Klar ist, dass diese Modifikation zur Glaubhaftigkeit des Songs als Männerfantasie beiträgt.

Doch lässt dies den Umkehrschluss zu? Wenn F-Dur in der operettenhaften Bearbeitung zum Bedeutungsfaktor werden kann, kann dann umgekehrt der F6/Dm7 Klang von Madonnas Version als Beweis für eine intendierte musikalische Ambiguität in Anspruch genommen werden? Johnson Argumente auf Basis des Rhythmus tragen kaum, denn sie abstrahieren Elemente des Groovs von seiner Gesamtheit mit Schlagzeug, die kaum das Gefühl von Ambiguität aufkommen lässt. Die harmonischen Argumente wiegen schwerer, doch schließt sich an dieses Gewicht eine generelle Frage an: Ist diese Harmonik überhaupt semantisiert in dem Sinne, wie es die Harmonik eines Schubert-Liedes ist? Wie eng ist die semantische Verbindung von Text und Musik in einem Pop-Song wie diesem. In wieweit ist diese Harmonik Teil eines Stils, der derartige Klänge als Sinnträger benutzt? Können wir mit klassisch geprägten Vorstellungen von Rhythmus und Harmonik die musikalische Semantik eines Popsongs überhaupt erschließen?

Was nicht von der Hand zu weißen ist, ist eine gewisse Spannung, die der Song durch die Reduktion der Begleitfiguren und der harmonischen Mittel bekommt. Doch auf welcher Ebene semantisiert sich diese Spannung? Welcher Hörer nimmt sie wie wahr? Johnson möchte die Grenzen der Polysemie von Popmusik durch musikalische Analyse aufzeigen, doch inwieweit gelingt das, selbst wenn man seine Interpretation für stringent hält? Gibt sie nicht gerade durch ihr analytisches Instrumentarium zu erkennen, mit welcher Musikauffassung sie rechnet? Und inwieweit ist diese soweit verallgemeinerbar, dass daraus „Grenzen“ der Interpretation entstehen können.

Befragen wir dazu nochmals Tarantinos Filmbeginn: Die Gangster sitzen beim Frühstück, sie werden ein erstes Mal vorgestellt und charakterisiert. Offensichtlich gehören Mr. Brown und Mr. Pink zu den Schurken, die an Sex denken und kein Trinkgeld geben. Themen des Gesprächs sind Popsongs, Sex und Sozialgefasel, das sich an der Trinkgeldfrage festmacht. Das Geschwätz der Gangster über absolute Allerweltsdinge, „Pop“ und „Tip“, schafft  eine Identifikation des Zuschauers mit der Szene. Er kennt die Gegenstände und ist sofort im Geschehen, über die Allgemeinheit und Holzschnittartigkeit der Themen integriert.

Was aber weiß der Zuschauer über Madonna und Like a virgin? Harmonische Details? Vielleicht. Doch sicher weiß er Dinge, mit denen Tarantino kalkuliert, die Johnson aber ganz ausspart. Madonnas Auftritt bei den MTV-Awards 1984 hat Like a Virgin skandalös inszeniert. Die Sängerin im Brautkleid enthüllt sich immer weiter und bricht am Ende des Songs, wie nach Orgasmen erschlafft zusammen und gibt den Blick auf ihre Unterwäsche frei. Die gleiche Sängerin war wegen ihrer Freizügigkeit im Bildband Sex (1992) und der SM-Inszenierungen zu ihrem Album Erotica (1992) in den USA Gegenstand teils heftiger Kontroversen.  Auf dieses sexualisierte Madonna-Bild stützt sich der fiktive Mr. Brown ganz offensichtlich und mit dem Wissen um dieses kalkuliert Tarantino seinen Filmbeginn. Wir fragen uns: Ist Johnsons Ansatz, das Werk von seinem Schöpfer abzulösen und es als autonomes Gebilde zu interpretieren einem Gegenstand gegenüber angemessen, zu dem die mediale Inszenierung der Kunstfigur Madonna wesentlich gehört. Geht es in Like a virgin um etwas, was sich isoliert von der Inszenierung Madonnas im Rahmen der Popkultur betrachten lässt? Abgesehen davon, dass sich die Frage nach dichter Beschreibung bei jeder kulturellen Hervorbringung stellen ließe, liegt sie hier besonders nahe. Denn Madonna ist keine Schöpferin autonomer Kunstwerke und sie ist keine Interpretin im klassischen Sinne, die ein Werk zur Aufführung bringt. Vielmehr ist Madonna mit Like a virgin so eng verbunden, wie es Browns geschwätzige Interpretation nahelegt. Haben wir den Text zunächst als Dichtung behandelt und vom „lyrischen Ich“ gesprochen, so stellt sich nun die Frage, ob nicht doch das „lyrische Ich“ und die Kunstfigur Madonna, die selbst eine Erzählung zu sein scheint, in eines fallen. Wie viel also leistet eine „text and music only analysis“ im Bezug auf ein Produkt des Pop, abgesehen davon, dass sie evidente Semantisierungen ausgrenzen möchte, die in der engen Verbindung von Pop-Song und Pop-Star liegen? In Tarantinos Reservoire Dogs jedenfalls wird gerade dieses dichte Wissen zum filmischen Kniff des Anfangs und verweist damit gerade zurück auf die performative Polysemie, welcher Johnson eine Grenze setzen wollte.
KV

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